Ich las damals am Berliner Rundfunk, am 17. März 1933 [Das von Kesten im Text genannte Datum 17.März ist unrichtig. Die Lesung dürfte um den 10.März stattgefunden haben. Anm. Ulf von Dewitz], von sieben bis einhalbacht Uhr abends aus meinem Roman ‚Der Gerechte‘ vor.
Da der neue Kanzler, Adolf Hitler, im gleichen Rundfunkhaus von einhalbacht bis wer weiß was sprach, war die ganze Straße von Herren in SA- und SS-Uniformen besetzt, zu beiden Seiten der Straße standen diese brutalen Uniformen, wohinter sich nackte Menschen verbargen, und drohten mir Mord und Tod an. Alle drei Meter stand einer, und ich musste jedem einen Bestätigungsbrief des Rundfunks vorzeigen, um überhaupt ins Rundfunkgebäude zu gelangen. Meine Frau begleitete mich, es schien ein endloser Weg, es schien immer dieselbe Stimme, immer die gleiche Uniform, immer dieselbe Morddrohung ‚Ausweis … Passiert … Ausweis …Passiert …Ausweis … Passiert…‘.
Mir schien, als wüßte jeder dieser Reporter der Diktatur meinen Text, den ich erst lesen wollte, schon auswendig. Dennoch ging ich unbeirrt voran, unbeirrt auch durch die Erfahrung, daß die SA schon in unserem Haus von Wohnung zu Wohnung gegangen war, und den Redakteur im Stockwerk unter mir mitgenommen hatte, schon vor zwei Wochen, und daß er inzwischen noch nicht heimgekommen war.
Ich las ein Kapitel aus meinem Roman, der von einem Pfarrer handelt, dessen Söhne, zwei Nationalsozialisten, ihn totschlagen, weil er gegen die Diktatur und Hitler predigt. Ich klagte die Nationalsozialisten und ihre Greuel an, und war wohl der letzte deutsche Dichter, der im Dritten Reich gegen Hitler und gegen das Dritte Reich gesprochen hat, wie noch im letzten Heft des ‚Simplizissimus‘, der schon unter Hitler sich noch über Hitler und seine Partei lustig machte, ein scharfes Gedicht gegen Hitler veröffentlicht habe, wohl das letzte Gedicht gegen Hitler, das offen im Dritten Reich erschienen ist […]
Indes ich am Berliner Rundfunk meine Invektitiven gegen Hitler las, eine halbe Stunde lang, erwarteten meine Frau, die mir zuhörte, und ich, daß im nächsten Augenblick eine dieser mordlustigen Uniformen im Aufnahmeraum erschiene, um mich festzunehmen und abzuführen.
Aber nichts dergleichen geschah. Ich las mein Kapitel zu Ende, raffte mein Manuskript zusammen, ging zur Kasse, empfing mein Honorar, und passierte wieder die abscheuliche Doppelreihe, exerzierte wieder dieses Spießrutenlaufen ab, zwischen lauter virtuellen Totschlägern. ‚Ausweis … Passiert … Ausweis … Passiert … Ausweis … Passiert…‘.