An die 30 Erzählungen und Novellen hat Kesten geschrieben. Einige verzeichneten großen Erfolg.

Kestens Anfänge als Novellist liegen in seiner Jugendzeit in Nürnberg. Ähnlich wie seine ersten drei Theaterstücke, die er als Schüler schrieb, sind auch zwei seiner Novellen, nämlich Rosa, eine Liebesgeschichte und Der Prophet, eine Satire auf die deutsche Revolution von 1918, verschollen.

Besonders seinen um 1929/30 veröffentlichten Novellen merkt man den viel belesenen Literaturkenner an: Er kennt die zeitgenössische Literatur, besonders die Werke von Heinrich Mann, hat er doch 1922/23 an einer Doktorarbeit über den Autor des Untertan gearbeitet. Kesten bekennt sich freimütig zu seinen Quellen und Vorbildern:

„Wie viele Humoristen, von Cervantes bis Fielding, begann ich mit Literaturparodien. In meinen ersten Novellen, Emilie und Die vergebliche Flucht parodiere ich Carl Sternheim und Thomas Mann und die soziale Literatur und den deutschen Erziehungsroman. Ich brachte also etwa mein eigentliches Thema in einem Nebensatz unter, und schrieb eine ganze Seite übers vollgestopfte Leben, die strotzende schmarotzende Welt, das heißt über Bagatellen.“

Hermann Kesten: Deutsche Literatur im Exil, S. 274

Im Januar 1926 wird Kestens erste Novelle gedruckt – in zehn Fortsetzungen, in der Frankfurter Zeitung:

„Meine erste Erzählung, die ich zu Ende schrieb, hieß Cintra und erhielt gegen meinen Willen beim Vorabdruck in der Frankfurter Zeitung vom Theaterkritiker Bernhard Diebold den Titel Vergebliche Flucht. Sie ist die erste meiner Dreißig Erzählungen und eine Parodie auf die tödliche Todesfurcht eines jungen portugiesischen Halbjuden Garrett. Man verliert sein Leben, wenn man ein Abkommen mit dem Tod trifft. Die Novelle, 1926 publiziert, ward von meiner ersten Reise nach Portugal 1923 angeregt.“

Wolfgang Buhl (Hg.): Hermann Kesten. Mit Menschen leben, S. 35

In der Vergebliche Flucht alias Cintra findet sich bereits all das, was den Erzähler Kesten ausmacht: die Stofffülle, der getriebene Handlungsverlauf, der groteske Züge annimmt, und der knappe, klare Stil. Gunnar Falk Fritzsche schreibt über die ersten vier Novellen Kestens Vergebliche FluchtDie LiebeseheDas verlorene Motiv und Moritz Pfeffer:

„Alle diese Geschichten werden zunehmend meisterlicher, d.h. lakonischer und sparsamer, mit Witz und Ironie erzählt, was ebenso wie das Fehlen jeglicher Psychologisierung das Groteske des Geschehens verstärkt. Stil und Thematik lassen deutlich ein Vorbild erkennen: den Heinrich Mann der italienischen Novellen (…).“

Heinz Ludwig Arnold (Hg.):
Kritisches Lexikon zur deutschen Gegenwartsliteratur, S. 8

All diese Merkmale der Erzählweise Kestens werden immer unverwechselbarer im Lauf seines Autorendaseins – er lässt seine Figuren mit spöttischem Blick zappeln, eilen, ins Unglück rennen, und doch blitzt der Menschenfreund, der Humanist und Moralist, immer wieder durch. Ein erzählender Moralist, der sich selbst sogar über das eigene positive Menschenbild lustig macht:

„Die Menschen sind so jämmerlich nicht, wie sie oft in der Geschichte erscheinen, wie sie mir und dir im täglichen Leben häufig vorkommen, und sie könnten leicht viel besser sein, da sie, wie Voltaire sagte, zu einer Sorte Affen gehören, die man zur Vernunft wie zur Tollheit dressieren kann.“

Hermann Kesten: Lauter Literaten, S. 8