Kestens letzte Publikation ist der Gedichtband Ich bin der ich bin von 1974, der eine lyrische Bilanz seines Lebens zieht. Stärker als in seinen anderen Schriften steht in den Gedichten der Mensch Kesten im Mittelpunkt.
Man kann die Gedichte gleichsam als autobiographische Kommentare zu seinem Werk und zu seiner Korrespondenz lesen. Während er in seinen Romanen und Briefen vorwiegend einen eher unverbindlichen und ironisch-heiteren Ton anschlägt, findet sich in den Gedichten eine ernste und komprimierte Sprache.

Ich bin der ich bin

Ich stehe an der Barriere. Ich kann nur zurückblicken.
Oder den Propheten spielen.
Schließlich halte ich mich an der Gegenwart,
Einem Geländer, das abbricht.
Je länger ich mit mir umgehe, um so weniger kenne ich mich.
Gleich wird die Sonne untergehen.
Die Nacht beginnt, die nie mehr endet.
Es ist eine Finsternis, an die man sich nicht gewöhnt.
Das Haus, das einstürzt. Schnee, der schmilzt.
Eine Stimme, die aufhört.
Ich hatte hundert Freunde. Tausende kannte ich beim Namen.
Die Erde deckt sie.
Ich sollte zweimal leben. Hatte ich andere Absichten?
Verfehlte ich meine Träume?
Bin ich abgestürzt und merkte es nicht?
Jemand spricht öffentlich von meinem Alter.
Wer hieß ihn meine Jahre zählen?
Ich habe also weniger Haare und Zähne?
Ich bin der ich bin.
Einer der mit Schatten spielt.
Ein Erfinder von Figuren,
Erzähler absurder Geschichten aus deinem und meinem Leben.
Ich amüsiere mich über die komischen Repetitionen
Meinesgleichen.
Sie sehn wie Götter aus, die schon im Anfang aufhören.
In einer Welt, die ein Hiatus ist,
Ein Vexierrätsel, das keinen vexiert.
Ich gehe und blicke mich um.
Ruft er mich schon?

Hermann Kesten: Ich bin der ich bin, S. 7

Der Inhalt des Titelgedichts scheint nichts weiter zu sein, als ein – keineswegs immer schmeichelhaftes – Selbstporträt des Autors und die Klage über ein zuende gehendes Leben. Wäre da nicht die Anspielung auf den Namen Jahwe.
Moses aber hütete die Schafe […] und kam an den Berg Gottes, Horeb. Und der Engel des Herrn erschien ihm in einer feurigen Flamme aus dem Busch. Und er sah, dass der Busch mit Feuer brannte […] Da aber der Herr sah, dass er hinging, […] rief ihm Gott aus dem Busch […]: Mose, Mose! Er antwortete: Hier bin ich. […] Mose sprach zu Gott: […] wenn ich zu den Kindern Israel komme, […] und sie mir sagen werden: Wie heißt sein Name? Was soll ich ihnen sagen? Gott sprach zu Mose: Ich bin, der ich bin. Und sprach: Also sollst du zu den Kindern Israel sagen : Ich bin hat mich zu euch gesandt. (Bibel, 2. Mose 3. Kapitel, V. 1-14)

Jahwe bedeutet in der deutschen Übersetzung „ich bin da“, „ich bin, der ich bin“, „ich werde sein, der ich sein werde“, „ich werde mich als seiend erweisen“ oder auch, „der da war, ist und sein wird“. Alle diese Übersetzungen beinhalten ein „ich bin einmalig“, „ich bin unverwechselbar“, „ich bin unzerstörbar“! Kesten spielt mit diesen Bedeutungen, ohne sich jedoch auf irgendeine Form von Religiosität festzulegen.