Anfang des Jahres 1933 wird die Weimarer Republik ausgezählt. Hindenburg ernennt Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler. Der Reichstag wird aufgelöst, Hitler schafft per Verordnung die Presse- und Versammlungsfreiheit ab und verbietet Streiks. Dennoch glauben viele Demokraten, dass Hitler schnell abgewirtschaftet haben wird. Auch die Literaten verkennen die Nazis gründlich. Noch im Februar 1933 nimmt Kesten an einer „makaber komischen Zusammenkunft“ verschiedener linker Schriftsteller teil, die in der Wohnung von Bernhard von Brentano stattfand.

„Sie sollten gemeinsam beraten, wie man der neuen deutschen Regierung, einer Kollektion sturer Nationalisten und Mörder, opponieren könnte. Da waren Heinrich Mann und Johannes R. Becher, Bert Brecht und Ernst Glaeser und Leonhard Frank. Keiner dieser am Leben bedrohten Literaten sprach damals vom Exil, in dem sie drei Tage später oder drei Monate später alle lebten. Bert Brecht erklärte, er sei bereit. Bräuchte es Proklamationen, Aufrufe, Reden, Taten, Theaterstücke, dazu sei er da. Nur müßte die Partei (welche?) oder die Rote Hilfe oder die Gewerkschaft ihm eine faustfeste, schußbereite Leibwache stellen, vier oder fünf Mann. Denn allein und schutzlos, nicht wahr, könne keiner diesen Horden entgegentreten? Eine Leibwache? Fragte Heinrich Mann, und sein Schnurrbart verdeckte kaum sein ironisches Lächeln. Uns zu bewachen oder überwachen? Uns zu schützen oder in Schutzhaft zu bringen? Uns zu verteidigen oder zu verraten? Brecht verstummte. Bald darauf gingen wir bedrückt und hastig auseinander.“

Hermann Kesten: Meine Freunde, die Poeten, S. 34

Auch Kesten unterschätzt den Ernst der Lage für kritische, zumal jüdische Literaten. Die Nazis nehmen den Reichstagsbrand vom 27. Februar als willkommenen Anlass, gezielt unliebsame politische Gegner zu verhaften.

10.März 1933

Letzte Lesung im Berliner Rundfunk

Ich las damals am Berliner Rundfunk, am 17. März 1933 [Das von Kesten im Text genannte Datum 17.März ist unrichtig. Die Lesung dürfte um den 10.März stattgefunden haben. Anm. Ulf von Dewitz], von sieben bis einhalbacht Uhr abends aus meinem Roman ‚Der Gerechte‘ vor.

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Ich las damals am Berliner Rundfunk, am 17. März 1933 [Das von Kesten im Text genannte Datum 17.März ist unrichtig. Die Lesung dürfte um den 10.März stattgefunden haben. Anm. Ulf von Dewitz], von sieben bis einhalbacht Uhr abends aus meinem Roman ‚Der Gerechte‘ vor.

Da der neue Kanzler, Adolf Hitler, im gleichen Rundfunkhaus von einhalbacht bis wer weiß was sprach, war die ganze Straße von Herren in SA- und SS-Uniformen besetzt, zu beiden Seiten der Straße standen diese brutalen Uniformen, wohinter sich nackte Menschen verbargen, und drohten mir Mord und Tod an. Alle drei Meter stand einer, und ich musste jedem einen Bestätigungsbrief des Rundfunks vorzeigen, um überhaupt ins Rundfunkgebäude zu gelangen. Meine Frau begleitete mich, es schien ein endloser Weg, es schien immer dieselbe Stimme, immer die gleiche Uniform, immer dieselbe Morddrohung ‚Ausweis … Passiert … Ausweis …Passiert …Ausweis … Passiert…‘.

Mir schien, als wüßte jeder dieser Reporter der Diktatur meinen Text, den ich erst lesen wollte, schon auswendig. Dennoch ging ich unbeirrt voran, unbeirrt auch durch die Erfahrung, daß die SA schon in unserem Haus von Wohnung zu Wohnung gegangen war, und den Redakteur im Stockwerk unter mir mitgenommen hatte, schon vor zwei Wochen, und daß er inzwischen noch nicht heimgekommen war.

Ich las ein Kapitel aus meinem Roman, der von einem Pfarrer handelt, dessen Söhne, zwei Nationalsozialisten, ihn totschlagen, weil er gegen die Diktatur und Hitler predigt. Ich klagte die Nationalsozialisten und ihre Greuel an, und war wohl der letzte deutsche Dichter, der im Dritten Reich gegen Hitler und gegen das Dritte Reich gesprochen hat, wie noch im letzten Heft des ‚Simplizissimus‘, der schon unter Hitler sich noch über Hitler und seine Partei lustig machte, ein scharfes Gedicht gegen Hitler veröffentlicht habe, wohl das letzte Gedicht gegen Hitler, das offen im Dritten Reich erschienen ist […]

Indes ich am Berliner Rundfunk meine Invektitiven gegen Hitler las, eine halbe Stunde lang, erwarteten meine Frau, die mir zuhörte, und ich, daß im nächsten Augenblick eine dieser mordlustigen Uniformen im Aufnahmeraum erschiene, um mich festzunehmen und abzuführen.

Aber nichts dergleichen geschah. Ich las mein Kapitel zu Ende, raffte mein Manuskript zusammen, ging zur Kasse, empfing mein Honorar, und passierte wieder die abscheuliche Doppelreihe, exerzierte wieder dieses Spießrutenlaufen ab, zwischen lauter virtuellen Totschlägern. ‚Ausweis … Passiert … Ausweis … Passiert … Ausweis … Passiert…‘.

Hermann Kesten, Ein Optimist. Beobachtungen unterwegs
Ungeachtet dessen attackiert Kesten im Radio wie in Zeitschriften öffentlich das Hitler-Regime. Er liest antinazistische Passagen aus seinem neuesten Roman und veröffentlicht noch Gedichte gegen Hitler.

Das Licht leuchtet in der Finsternis

Gedicht wider den Nationalsozialismus

Das Licht leuchtet in der Finsternis

Deutschland, das große Kind, zugleich
Idee und Sphinx und drittes Reich,
hat der Vernunft den Krieg erklärt.

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Das Licht leuchtet in der Finsternis

Deutschland, das große Kind, zugleich
Idee und Sphinx und drittes Reich,
hat der Vernunft den Krieg erklärt.


Geist gilt für Gift, das langsam schwärt.
Hat man Vernunft erst abgeschafft,
Tritt etwas anderes in Kraft.
Was dieses ist, das weiß man nicht,
Obwohl es nicht daran gebricht.
Nur wenige sagen, angesichts
Des dunklen Etwas, es sei Nichts,
Das Nichts, das an die Stelle tritt,
Wo die Vernunft ins Nichts entglitt.

Deutschland, das Land der Dichter und
Nicht-Denker kommt so auf den Hund,
Der, weil er räudig ist, sich kratzt,
Bis ihm die alte Haut zerplatzt,
Bis er, der hündisch treu gebellt,
Die alten Herren fletschend stellt
Und ihnen dreist den Hals zerbeißt.
Denn aus Blut kommt Blut, und nur Geist schafft Geist.
Wenn Dummheit herrscht, wird Dummheit Schuld.
Glaubt ihr, ein Volk hat ewige Geduld?
Gebt acht! Die Nacht, die Ihr ins Land gebracht,
Macht Eure Macht zu unserer Übermacht!

Hermann Kesten: Ich bin der ich bin, S. 27
Nur die Zivilcourage einer Nachbarin bewahrt Kesten einige Tage später vor der Verhaftung, wie er später Ernst Toller in einem Brief schildert:

„Wissen Sie schon, daß die SA Sie frühmorgens in Ihrer Berliner Wohnung gesucht hat? Die waren auch bei uns im Haus. Plötzlich klingelte es. Da stand die Frau aus der Wohnung unter uns, er ist irgendwo Redakteur, ich kenne ihn vom Grüßen. Sie bebte, flüsterte, Polizei, SA, Hausdurchsuchung, die kämen sicher auch zu uns, wir sollten die Hintertreppe hinunter, verdächtige Papiere forttun.“

Hermann Kesten: Deutsche Literatur im Exil, S. 22

Er flieht Mitte März 1933 flieht mit seiner Frau nach Paris
Er ahnt nicht, dass er Deutschland erst 1949 wieder betreten wird.