15Es ist die radikale Abkehr von der Elterngeneration nach deren Scheitern im Ersten Weltkrieg, Abkehr aber auch vom Pathos des Expressionismus – die Neue Sachlichkeit ist eine Bewegung der Jungen. Es ist keine ideologische, zielgerichtete Bewegung, mehr eine Zeitströmung von 1923 bis zur Machtübernahme Hitlers 1933, ein Lebensgefühl, das sich in der bewussten Wahl der Formen ausdrückt. Die jungen Künstler – bildende Künstler und Literaten gleichermaßen, wählen nüchterne, dokumentarische Formen.

Die Schriftsteller, denen später die Eigenschaft Anhänger der Neuen Sachlichkeit aufgedrückt wird, schreiben Zeitromane, Zeitstücke, Reportagen, Montagen, Reiseberichte und Dokumentationen. Der Lektor Kesten hat 1929 mit untrüglichem Gespür für den Geist seiner Zeit der Neuen Sachlichkeit ein Forum gegeben: in der von ihm bei Kiepenheuer herausgegebenen Anthologie 24 neue deutsche Erzähler. Doch nicht alle, die zur Neuen Sachlichkeit gerechnet werden – und das wird Kesten mit seinen Zeitromanen und Erzählungen – werden richtig eingeordnet. Erich Kästner ringt um eine differenziertere Sicht des augenscheinlich sachlichen Kesten, der zwar dokumentarisch schreibt, aber mit moralischer Intention an seine Leser herantritt:

„Schon in seinem ersten Roman Josef sucht die Freiheit (1927) beweist Kesten den Willen und den Entschluß der Authentizität. Die spannende Geschichte, die er erzählt, ist erfunden und doch dokumentarisch […] Italienische Literaturkritiker haben das Schlagwort von der ‚Neuen Sachlichkeit‘ mit ’neorealismo‘ übersetzt. Mit Realismus als künstlerischem Prinzip hatten unsere Bücher nicht das mindeste zu tun, am wenigsten Kestens Romane. Die Hypertrophie der Handlung, die Monomanie der Charaktere, die Übertriebenheit der Situationen, die Gewalttätigkeit in der Konstruktion, der bewußte Verzicht auf differenzierte Psychologie und, nicht zuletzt, der stilisierte, jeder Art von Wirklichkeitstreue entgegengesetzte Dialog – alle diese Mittel hatten weder mit dem alten noch mit dem neuen Realismus etwas zu schaffen.“

Und, etwas später:

„Es ging Kesten darum, die in den Köpfen der Zeitgenossen und die nahe ihrem Herzen krankhaft wuchernden Illusionen zu entfernen. Der Autor, der ein Moralist ist, muß den Mut haben, ein Chirurg zu sein. Es sind alle gute Menschen. Aber warum tun sie einander Böses? Wer die Welt heilen will, muß nicht die Welt, sondern die Menschen operieren. Er muß, scheinbar ohne Mitleid, mit dem scharfen Messer der Skepsis, der Satire, der Ironie und des Zynismus ihre Irrtümer und Vorurteile, ihre Herzensträgheit, ihren Selbstbetrug, Massenwahn und Aberglauben wegschneiden. Er muß sie herausätzen. Freilich, danach, wenn die Betäubung zu Ende sein wird, werden die großen Schmerzen kommen. Sie gehören zur Heilung. Und nur um die Heilung geht es dem Moralisten. Er ist ja kein Nihilist. Er treibt den Menschen nicht in Zweifel und Verzweiflung, um ihn dann, in böser Lust à la mode, der Hoffnungslosigkeit und dem baren Nichts zu überlassen. Kesten glaubt leidenschaftlich an unzerstörbare Werte, die nur verschüttet sind. Der desillusionierte, der ernüchterte, der sachliche Mensch ist berufen und fähig, den Schutt des Jahrhunderts in den Orkus zu schaufeln und die unzerstörten Werte freizulegen.“

Horst Bienek (Hg.): Hommage à Hermann Kesten, S. 100-101