Kesten lässt sich von dem Fieber, das in Berlin grassiert, nicht anstecken. Er hat einen Schutzwall um sich gezogen. Dieser Schutzwall heisst Familie und besteht aus drei Frauen: Mutter Ida, Schwester Regina und Ehefrau Toni. Mutter und Schwester hat er gleich nach Berlin mitgenommen, seine Freundin Toni hat er am 25. Dezember 1928 in Nürnberg geheiratet.
Toni tippt seine Manuskripte, mit Schwester Gina übersetzt er gemeinsam Romane von französischen Autoren wie Julien Green, Henry Michaux oder Jules Romains.

Aus der Sicherheit dieser familiären Konstellation heraus beobachtet er die Wirren der Zeit mit nüchternem distanziertem Blick. Er geht nicht in die Nachtbars, nicht in die Trendlokale, nicht in die prominenten literarischen Cafés. Inmitten der bunten Literatenszene bleibt er auch im Privatleben ein Moralist: Er hat keine Affären, er kennt keine Ausschweifungen. In kleinen stillen Cafés im Umkreis seiner Wohnung arbeitet er wie ein Besessener. Die turbulente Zeit lässt er an sich vorüberziehen, mit skeptischem Blick, der alles seziert und moralisch verurteilt:

„Haben Sie noch nicht gesehen, nicht genug hinter die Kulissen der Zivilisation geschaut, nicht genug Eigennutz, Bosheit, Neid, Geldgier, Mordlust, Hurerei, Betrug, gemeine Gesinnung, Verrat und Abfall mit eigenen sehenden Augen geschaut? Was für Ozeane menschlicher Gemeinheiten braucht es, um darin Ihren Kinderglauben an das Gute, Wahre, Schöne zu ersäufen?“

Hermann Kesten: Der Scharlatan, S. 301