Der Studienabbrecher, Bühnenautor und Novellist Kesten aus Nürnberg wird 1928 Lektor im bekannten Berliner Gustav Kiepenheuer Verlag. Vor dem Stellenangebot hatte Verleger Kiepenheuer 1926/27 den jungen, unbekannten Mann als Bühnenautor verpflichtet.
Kurze Zeit nach den Vertragsverhandlungen zwischen Kiepenheuer und Kesten übernimmt Fritz Helmut Landshoff als Geschäftsführer den fast bankrotten Verlag, den Buchhändler Gustav Kiepenheuer seit 1909 in Potsdam aufgebaut hatte. Landshoff war Kommilitone von Kesten an der Universität Frankfurt gewesen. Er findet im Verlag die Theaterstücke des Studienkollegen vor – und nimmt sogleich Kontakt zu Kesten in Nürnberg auf. Landshoff überzeugt Kesten davon, seinen ersten Roman zu schreiben. 1927 stößt ein weiterer Frankfurter Mitstudent, Walter Landauer, zum Verlag. Landshoff wie Landauer wollen Kesten als Verlagslektor nach Berlin holen. Kesten wohnt und schreibt zunächst noch in Nürnberg. Anfang Mai 1928 besorgt sich Kesten eine Unterkunft als Untermieter in Berlin. Zum Ärger der Kiepenheuer-Verlagsleitung hält er sich dennoch überwiegend in Nürnberg auf.

„Wir machen Ihnen folgenden Vorschlag, über den Sie sich bitte umgehend äußern wollen (und zwar etwas schneller, als über den Vertragsentwurf, den Sie uns vor mehreren Monaten mit Äußerungen zurückversprachen, was bis heute nicht geschehen ist). Sie übersiedeln zum 1. August nach Berlin… Sie beginnen am 1. September (zu welchem Termin wir Ihren Roman abgeschlossen hoffen, so daß Ihr hochwohllöblicher Kopf für andere Manuskripte empfänglich ist) […]“

Fritz Helmut Landshoff: Brief an Hermann Kesten, 19.7.1928, Monacensia

Endlich in Berlin angekommen, arbeitet Kesten mit Eifer und Engagement an seiner neuen Aufgabe. Er spürt von Anfang an neue Talente auf. Debütanten unter seiner Regie sind Marie Louise Fleißer, Wolfgang Weyrauch, Hans Georg Brenner, Josef Breitbach, Gustav Regler, Valeriu Marcu, Georg Hermann. 1929 wird Joseph Roth als Kiepenheuer-Autor gewonnen. Sein Roman Hiob ist ein großer Erfolg.

Um Heinrich Mann, der bereits Professor Unrat und Der Untertan veröffentlicht hatte und sehr bekannt war, hat sich der Verlag lange bemüht. 1930 gelingt es Kesten, den Bruder Thomas Manns als Autor zu verpflichten. Marcel Reich-Ranicki über die Verdienste Kestens:

„Unter seiner [Kestens, A. d. Verf.] Ägide wurde der kleine Gustav Kiepenheuer-Verlag zum Zentrum der modernen deutschen Literatur: Innerhalb von wenigen Jahren erschienen dort die nachgelassenen Erzählungen Franz Kafkas, die ‚Versuche‘ Bertolt Brechts, die Essays von Benn und Heinrich Mann, die schönsten Romane von Joseph Roth, die frühen Bücher von Anna Seghers.“

Marcel Reich-Ranicki: Über Ruhestörer, S. 107

Rückblickend sagt Kesten über die Kiepenheuer-Ära „Landshoff-Landauer-Kesten“:

„Aus dem führenden Verlag des Expressionismus wurde Ende der zwanziger Jahre der führende Verlag der Neuen Sachlichkeit.“

Thema, Stil, Gestalt, S. 515

Das heisst, aus dem kleinen Verlagshaus wird einer der fortschrittlichsten Verlage, der der literarischen Avantgarde eine Stimme gibt.

Das Wüten der Nazis spürt der Kiepenheuer-Verlag am 10. Mai 1933, dem Tag der Bücherverbrennung, besonders hart: 75 Prozent der Verlagsproduktion werden verboten und verbrannt.