Eine überdimensionale Kopie der alten Welt

Hermann Kesten

Richtig heimisch wurde er nie in der Metropole, dennoch zollte er ihr skeptischen Respekt. Kesten erlebte New York als eine verzerrte, überdimensionale Kopie der alten Welt, die den Immigranten eine neue Identität stiftete.

„Als ich im Mai 1940 zum erstenmal nach New York kam, schien mir die Stadt wie ein grotesker Massentraum von hundert Millionen Einwanderern. Das war ein steinerner Witz aus der Doublé-Zeit, the gilded age, ein großkapitalistischer Architekturtraum, der schon ein wenig verschollen wirkt. Das war eine kosmopolitische Burleske von absurder Häßlichkeit und barbarischem Prunk, ein babylonischer Über-Turmbau, der erfüllte Wunschtraum einer aus allen entlegenen Winkeln der Welt hierher verschlagenen Bevölkerung, von lauter verlorenen Söhnen auf der Flucht vor den alten Städten und auf der Suche nach der neuen Welt. Sie wollten endlich in Urwäldern leben und gründeten ein Superbabel. Aus Träumen von einer neuen Welt schufen sie die überdimensionale Kopie der alten Welt. Aus Trappern, Jägern und Cowboys wurden sie Wallstreetmakler, Detroitingenieure und Harvardphysiker.“

Herman Kesten: Dichter im Café, S. 329

New York erinnerte Kesten in vielerlei Hinsicht an das ungeliebte Berlin, das er seinerzeit schon mit Spott überzog, als Berlin für viele bewunderter Hauptwohnsitz des Zeitgeists war, die einzige Großstadt Deutschlands. Berlin und New York verband für Kesten die Verbindung von Hässlichkeit und Exzentrik.

„Obendrein haben Berlin und New York vieles gemein, das Groteske und Geschwinde, das im intellektuellen Bereich oft wie Zauberei, oft wie absurde Vergeßlichkeit aussieht. Beide Weltstädte haben eine imposante Häßlichkeit und eine überraschend liebliche Umgebung. Ihre exzentrische Redeweise und ihr kaustischer Mutterwitz waren im alten Berlin und sind in New York durch jüdischen Witz stimuliert; die Mischung von Juden und Christen war fürs ‚weimarische‘ Berlin und ist für New York typisch. Die künstliche Magie der Lichtreklame macht beide Städte zu Nachtschönheiten. Beide Städte wirken wie steinerne Witze, ja als wären sie von den Architekten des Turms zu Babel erbaut.“

Hermann Kesten: Der Geist der Unruhe, S. 128

Als Sujet wählte Kesten die Stadt, in der er fast ein und ein halbes Jahrzehnt lebte, nur ein einziges Mal: in der Novelle Oberst Kock, geschrieben 1942.

„Es ist der gewaltigste Stoff für einen Großstadtdichter, aber ich habe vierzehn Jahre dort gelebt und nur eine Kurzgeschichte über New York geschrieben. New York ist ein schwieriger Stoff für ausländische Literaten.“

Herman Kesten: Dichter im Café, S. 331