Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre verstrickt sich Kesten in öffentliche Auseinandersetzungen, die typisch sind für seinen streitbaren Charakter und ihn einmal mehr als engagierten Verfechter der Freiheit ausweisen.
Im September 1957 veröffentlicht er anlässlich der Frankfurter Tagung des P.E.N.-Clubs einen Artikel, der sich vehement gegen Autorenverfolgungen in der DDR richtet und Meinungsfreiheit für die Schriftsteller einklagt.

Die DDR verfolgt keine Autoren

Johannes R. Becher antwortet Kesten

„Herr Kesten wurde kurz und bündig dazu aufgefordert, er solle die deutschen Autoren nennen, die, wie er zu behaupten wagte, in der Deutschen Demokratischen Republik ins Gefängnis geworfen wurden oder verfolgt werden,

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„Herr Kesten wurde kurz und bündig dazu aufgefordert, er solle die deutschen Autoren nennen, die, wie er zu behaupten wagte, in der Deutschen Demokratischen Republik ins Gefängnis geworfen wurden oder verfolgt werden,

und zwar deswegen, weil sie eine Meinung äußerten, die der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik nicht genehm sei. […] Kesten ist ein Autor, der sich geradezu wissenschaftlich exakt auszudrücken versteht, ein Präzisionskünstler des Worts. Was ihn als Menschengestalter hervorhebt, ist ebenfalls eine sparsame Behandlung der ihm als Dichter anvertrauten Figuren. Er hält Maß und Mitte. Alle diese Vorzüge werden in seiner Antwort geradezu in ihr Gegenteil verkehrt. Ein wüstes Sammelsurium von Schmähungen, Beschimpfungen, unbewiesenen und unbeweisbaren Behauptungen breitet er aus, statt dass er sich auf die Frage beschränkt, die ich ihm gestellt hatte. Er ist bereit, Begriffe, an die er sonst niemals rütteln ließe, zu verdrehen nur deshalb, weil er gegen jemanden polemisiert, der das Staatswesen der Deutschen Demokratischen Republik bejaht. […] Kein Autor wurde in der Deutschen Demokratischen Republik wegen einer Meinungsäußerung verurteilt, die dieser nicht genehm wäre.“

Ich hatte Glück mit Menschen, (Hg.) Wolfgang Buhl/Ulf von Dewitz, S. 114
Johannes R. Becher, einst Emigrant wie Kesten und mittlerweile vom berühmten Dichter zum Kultusminister der DDR avanciert, widerspricht den Anklagen Kestens. Der kontroverse Briefwechsel wird in der Süddeutschen Zeitung öffentlich geführt.

Kesten, dem der Kommunismus genauso verhasst war wie der Faschismus, zog zunächst alle Register, um die freiheitsfeindliche Ideologie anzuklagen:

„Die russische Revolution ist vierzig Jahre alt, und Ihre sogenannte demokratische Republik zwölf Jahre alt, und noch ist kein Ende der Vergewaltigungen, der Sklaverei, der Schablone, des millionenfachen Mords, der Konzentrationslager und Arbeitslager und Zwangsarbeit, der Diktatur und Diadochenkämpfe und des Cäsarenwahnsinns, der Uniformierung des Geistes, der Künstler, der Wissenschaften, der Literatur, kein Ende der Greuel und willkürlichen Justiz, des Verrats und der Denunziation und der Geheimpolizeimethoden, der Riesenkorruption und Niedertrampelung der Menschenwürde, des Mißbrauchs der Jugend, der Unterernährung und Überbewaffnung, der Militarisierung und prinzipiellen Menschenopfer, der Verachtung des einzelnen und der propagierten Vergötzung der Masse, der Superbürokratie und des Supernationalismus, des Neukolonialismus in Europa und Asien, und der sittenlosen Barbarei! Und alles geschieht im Namen des Sozialismus […].“

Herman Kesten: Der Geist der Unruhe, S. 281-282

Kesten schwenkte auf den versöhnlichen Ton ein und die Kuh war damit vom Eis.

„Ich wollte nicht gegen Becher polemisieren, ich wollte ihn rühren, ihn dazu bewegen, Schriftsteller zu befreien, die man ihrer abweichenden Meinungen wegen in die Gefängnisse der DDR gesperrt hatte […].“

Herman Kesten: Der Geist der Unruhe, S. 285-286

Wiederum um die DDR und diesmal um den Bau der Mauer ging es bei der zweiten Auseinandersetzung. Sie war der schärfste publizistische Streit, dem sich Kesten in der Bundesrepublik aussetzte und sie artete zu einem Skandal aus. Auch hier brach Kesten den Streit vom Zaun. In einem Zeitungsartikel berichtete er von einer literarischen Veranstaltung in Mailand, auf der er selbst und der junge Uwe Johnson gesprochen hatten. Kesten warf Johnson vor, dass dieser seine eigenen Romane für völlig unpolitisch erklärt und es als reinen Zufall bezeichnet habe, dass sie in Berlin handelten. Die Mauer quer durch Berlin halte er nicht für unmoralisch, sie habe im Gegenteil ihre positiven Seiten. Sie sei notwendig, ihr Bau sei gut, vernünftig und sittlich gewesen.

Johnson protestierte gegen Kestens Darstellung und gab eine eigene Version, die der italienische Verleger Feltrinelli als Organisator der Veranstaltung bestätigte. Zusammen mit Johnson gab dieser eine Pressekonferenz und präsentierte eine Tonaufnahme der Veranstaltung. Aus ihr war zu entnehmen, dass Johnson die Mauer tatsächlich nicht „gut, vernünftig und sittlich“ genannt hatte, sondern eine Notwehr der Kommunisten gegen die DDR-Flucht ihrer Bürger. Johnson fasste zusammen: „Hermann Kesten hat gelogen. Ich nenne Hermann Kesten einen Lügner.“ (Uwe Johnson: Abendzeitung München, 6.12.1961)

In der deutschen Presse wurde die Auseinandersetzung begierig aufgegriffen und wochenlang diskutiert. Sogar der Bundestag mischte sich in den Streitfall ein. Die CDU/CSU-Fraktion schlug vor, das Auslandsstipendium von Johnson zu streichen.
Ein knappes Vierteljahrhundert später sah Kesten seinen Fehler ein und bedauerte den Konflikt ehrlich:

„Ja, das tut mir heute nachträglich leid. Meine Frau hat gleich gesagt, dass ich das nicht machen soll. […] Denn schließlich war ich ein alter Schriftsteller, und er war ein junger Autor. Und wenn er mir schon nicht gefiel, so hätte ich schweigen sollen […]“

Wolfgang Buhl: Interview Hermann Kesten, 29.1.1985