Kesten war Jude. Obwohl sein Schicksal ganz wesentlich vom Nationalsozialismus und damit vom Antisemitismus geprägt wurde, scheint ihm sein Judentum nur bedingt wichtig gewesen zu sein. Jedenfalls finden sich hierzu in seinen zahlreichen Schriften nur sehr spärliche Bemerkungen.

„Ich wußte immer, daß ich ein Jude war, und nie genau, was ein Jude ist. Weder Religion noch Rasse, weder semitische noch antisemitische Merkmale, weder Geist noch Ungeist, weder die Herkunft noch die Zukunft waren die bestimmenden Eigenschaften eines Juden. Nicht einmal auf die Verfolgung konnte man sich als untrügliches Symptom verlassen.“

Hermann Kesten: Der Geist der Unruhe, S. 106

Weder durch die Zugehörigkeit zu einer jüdischen Gemeinde in seinen Jugendjahren, noch durch den jüdischen Religionsunterricht am Gymnasium und durch die Erfahrung der Judenverfolgung ist er zum bekennenden Juden oder Zionisten geworden. Immerhin hat er in eine Familie eingeheiratet, deren Familienoberhaupt, der Händler Chaim Juda Warowitz, ein wichtiges Amt in der jüdischen Gemeinde innehatte und dieses, auch was seine Tochter betraf, sicherlich sehr ernst genommen hat.

Eine "unvertretbare Auffälligkeit"

Hermann versus Chaim

Unter Juden sind zwei Vornamen, bei Kesten Hermann und Chajem oder Chaim, üblich. Der eine ist dem Sprachraum entnommen oder angepasst, in dem die Familie lebt, der zweite ist hebräisch und zumeist biblischer Herkunft. Auch wenn Kesten in den Ämtern der Stadt Nürnberg bis zu seinem Weggang nach Berlin immer unter seinem hebräischen Vornamen geführt wurde, hat er sich an diesen Vornamen nie gewöhnt. mehr…

Unter Juden sind zwei Vornamen, bei Kesten Hermann und Chajem oder Chaim, üblich. Der eine ist dem Sprachraum entnommen oder angepasst, in dem die Familie lebt, der zweite ist hebräisch und zumeist biblischer Herkunft. Auch wenn Kesten in den Ämtern der Stadt Nürnberg bis zu seinem Weggang nach Berlin immer unter seinem hebräischen Vornamen geführt wurde, hat er sich an diesen Vornamen nie gewöhnt.

Seine Unterschrift auf seinem Heiratsdokument zeigt dies deutlich. Vor einem mit breitem Federstrich selbstsicher hingesetzten „Hermann Kesten“ findet sich ein nachträglich – offensichtlich erst auf Aufforderung – in die vorhandene enge Lücke hineingekritzeltes Chaim. Im Zuge seiner Einbürgerung Anfang der dreißiger Jahre in Berlin durfte und konnte er den schon damals für einen Deutschen als diskriminierend geltenden Vornamen als eine „unvertretbare Auffälligkeit“ offiziell ablegen.

Mit einer späten Ausnahme – ein Interview durch Germanisten der Universität Basel – hat Kesten sich nie zu seiner ostjüdischen Herkunft geäußert. Seinen Geburtsort hat er nie besucht.
In seinem Roman Die fremden Götter und in einigen kleineren Texten äußert sich Kesten zum Judentum.

Im Jahr 1950 unternimmt er zwar eine Reise nach Israel, aber „dieses Land, wo nur die Kinder die Sprache des Landes beherrschen, dieses in Blut und Hochmut geborene Israel“ (Hermann Kesten: Geist der Unruhe, S. 105), bleibt ihm fremd.

Kritische Distanz

Kesten und der Staat Israel

„Das einzige Land der Welt, wo man Juden mit Begeisterung herein- und ungern herausläßt, ist eine Nachgeburt des zweiten Weltkriegs. Es hat durch seine Entstehung ein brennendes welthistorisches Unrecht gutgemacht, nämlich die spirituelle oder eingebildete oder reale Heimatlosigkeit der Juden zu beenden. mehr…

„Das einzige Land der Welt, wo man Juden mit Begeisterung herein- und ungern herausläßt, ist eine Nachgeburt des zweiten Weltkriegs. Es hat durch seine Entstehung ein brennendes welthistorisches Unrecht gutgemacht, nämlich die spirituelle oder eingebildete oder reale Heimatlosigkeit der Juden zu beenden.

Es ward inmitten eines brennenden lokalen Unrechts geboren, nämlich der Flucht oder Austreibung der vorigen Mehrheit der Landesbewohner, der Araber.“

Hermann Kesten: Der Geist der Unruhe, S. 104
Das in Israel praktizierte Judentum hatte mit Kestens Selbstverständnis nichts zu tun. Seine Identität gründete in der europäischen Kultur, Europa blieb seine geistige Heimat. Mit der ihm eigenen Ironie wies Kesten alle Vereinnahmungen durch die Israelis und vermeintliche Verwandtschaftsbeziehungen weit von sich:

„Ich vergaß meinen lächelnden Schrecken der ersten Tage, als aus jedem Kaffeehaus in Tel-Aviv, Haifa oder Jerusalem, hinter jedem Busch und Baum im Gallil oder Emek wildfremde Menschen kamen, die Kesten hießen, Verwandte, wie sie versicherten, und alle waren Helden (und Opfer), alle Veteranen (und heroisch), alle schwärmten von Israel, als wären sie Realitätenagenten und Parzellenverkäufer, alle schworen, nur hier lebe ein Jude ohne die Pein des Antisemitismus (sie vergaßen die bewaffneten Antisemiten rund um das Land). Alle erwarteten von mir, ich würde das Land nie mehr verlassen wollen. Sie schauderten, als ich gestand, ich sei ein Tourist, so reiselustig wie der Ewige Jude, und ich fände New York oder Rom eine hübschere Residenz als Tel-Aviv.“

Hermann Kesten: Der Geist der Unruhe, S. 107-108