„Was geschieht in diesem Buch? Ein Junge versteckt sich an seinem dreizehnten Geburtstag in einer Nische des Wohnzimmers und lernt, wie man zu sagen pflegt, das Leben kennen. Der Kursus dauert nur ein paar Stunden, doch der Stundenplan ist reichhaltig. Der Anschauungsunterricht liefert dem entsetzten Knaben Beispiele aus allen einschlägigen Wissensgebieten. Er beobachtet Lüge, Betrug, Begierde und Erpressung, Feigheit, Haß und Verzweiflung, Promiskuität, Diebstahl, Ehebruch, Verhaftungen und Selbstmord. Erbarmungslos enthüllt sich dem Knaben die Epoche. Schonungslos enthüllt sich die Familie. Schamlos enthüllt sich der Onkel, der noch nur noch lebte, weil er noch nicht tot war. Nackt umarmt die Mutter einen Fremden. Die Nachkriegszeit zeigt nicht nur, sie demonstriert Ihre Blöße.“

Horst Bienek (Hg.): Hommage á Hermann Kesten, S. 100

Die Anregung einen Roman zu schreiben, gibt 1927 der Freund Fritz Landshoff, Mitbesitzer des Kiepenheuer-Verlags in Berlin-Potsdam:

„Dann ging er mit mir essen, bei Kempinski, und fragte mich beim Kaffee, ob ich nicht einen Roman schreiben möchte, der Verlag werde meine Novellen drucken, aber natürlich verspreche das Debüt eines neuen Prosa-Autors mit einem Roman größeren Erfolg.“

„Ich hatte Glück mit den Menschen“,
(Hg.) Wolfgang Buhl/ Ulf von Dewitz, S. 11

Kesten hält zunächst wenig von dieser Idee, macht sich aber doch ans Werk.

Überredet

Der Weg zum ersten Roman

„Haben Sie nicht Lust, einen Roman zu schreiben?“ fragte er. Mich empörte die Zumutung. mehr…

„Haben Sie nicht Lust, einen Roman zu schreiben?“ fragte er. Mich empörte die Zumutung.

Ich bin von Haus aus ein Dramatiker, erklärte ich. Sie schreiben auch Novellen, sagte Landshoff. Ich erwiderte: eine Novelle hat dramatische, ja theatralische Akzente. Nie werde ich einen Roman schreiben, versicherte ich, fuhr nach Nürnberg heim und schrieb dort in acht bis zehn Tagen meinen ersten Roman ‚Josef sucht die Freiheit‘, ich schrieb ihn in einer Gartenwirtschaft am Dutzendteich, wo Liebespaare und Philister saßen, übrigens auch viele Nürnberger Juden und stets mit einer Hundepeitsche und Reitstiefel der infame Antisemitenführer Julius Streicher, der Herausgeber des ‚Stürmer‘.
Es war im Mai 1927, Linden oder Kastanien blühten, Hunde bellten, Vögel sangen, manche Liebespaare ruderten auf dem Dutzendteich und küßten sich, manche aßen Bratwürste mit Sauerkraut im Gartenrestaurant und küssten sich, ich saß und lauschte den Gesprächen am Nebentisch und blickte den Wolken nach und schrieb.
Der Roman sollte der erste Band einer Trilogie werden, mit dem Gesamttitel ‚Das Ende eines großen Mannes‘. ‚Josef sucht die Freiheit‘ schildert das Leben und die Erfahrungen eines dreizehnjährigen Jungen Josef Bar in einer deutschen Provinzstadt, der den vergeblichen Versuch macht, sich aus allen Konventionen, insbesondere der Familie, zu lösen. Es ist die erste Krise des Individuums.
Die drei Romane sollten das tragikomische Ende des Individuums in der modernen Industriegesellschaft und orthodoxen Massengesellschaft zeigen. […]
Da ich einen dreizehnjährigen Jungen schilderte, beschrieb ich eine dreizehnjährige Welt, freilich mit der Stimme und mit der Erfahrung eines 27-jährigen. […] Gelegentlich haben mir Kritiker, wie auch bei meinem späteren Roman ‚Die Kinder von Gernika‘, Thomas Mann in seinem Vorwort zu jenem Roman, gesagt, ich ließe meine Halbwüchsigen so gescheit wie mich selber sprechen, so gescheit seien Halbwüchsige nicht. Natürlich hatte ich recht, und meine Figuren waren echt.
Schon die Verstandeskräfte von Zweijährigen oder Dreijährigen, welche eine Sprache lernen und die Eindrücke ihrer ganzen Welt bewältigen, sind viel größer, als man gemeinhin annimmt, und Dreizehnjährige oder Fünfzehnjährige von Talent und Vernunft und Schicksalserfahrung sind partiell so gescheit wie viele Dreißig- oder Sechzigjährige, nur mischen sie große Vernunft mit falschen Schlüssen aus fehlenden Erfahrungen, aber tun das nicht auch alle Erwachsenen?“

Manche Kritiker fanden auch gewisse groteske Züge meiner Romane, gewisse Kraßheiten der Darstellung übertrieben, weil sie nicht begriffen, daß die Wirklichkeit wie eine Karikatur der Wirklichkeit aussieht und daß Menschen unbeschreiblich grotesk wirken, wenn man sie von nahe ansieht, ja daß unsere ganze Vernunft, unerläßlich für die Gesellschaft, kaum ein Parfüm, kaum eine Würze, kaum das Salz in der Suppe ist.

"Ich hatte Glück mit den Menschen", (Hg.) Wolfgang Buhl/ Ulf von Dewitz, S. 11-12
Der Roman findet nicht nur bei den Literaturkritikern Beachtung. Kesten gilt als hoffungsvoller Vertreter der so genannten Nachkriegsgeneration und wird zunächst der Neuen Sachlichkeit zugeordnet. Jean Amery beschreibt, wie Kestens Erstlingswerk 1928 beim Leser ankam:

„Das Buch, ein Roman der Pubertät und zugleich eine Auseinandersetzung des Verfassers mit dem kleinbürgerlichen Milieu erregte Aufsehen durch seine unerhörte Kühnheit: unerhört für die damaligen Begriffe, versteht sich. Die in diesem Sinne gewagtesten Szenen sind jene, bei denen der Knirps seiner jungen und hübschen Mutter beim Beischlaf zusieht, ohne besonderen Ekel übrigens, auch ohne daß man das Gefühl hat, es müsse hier ein nicht wieder gutzumachendes ödipales Trauma im Kinde bewirkt worden sein.
Nun versetze man sich ins Jahr 1927 zurück, in dem das Buch herauskam. Die Mutter treibt es da, und nicht nur mit einem Manne, und nicht mit dem legitim angetrauten! Man fand dies skandalös im höchsten Maße[…]“

Jean Amery: Bücher aus der Jugend unserer Jahrhunderts, S. 77-79