An welchem historischen Ereignis hätten Sie gerne teilgenommen? Diese 1961 von einer Zeitung öffentlich gestellte Frage beantwortete Kesten dem Aufsatz War ich kein Zeuge?, der fast einen Skandal hervorrief. Kesten schrieb, dass er gerne beim Gespräch von Moses mit Gott dabeigewesen wäre, als auf dem Berg Horeb die Gesetzestafeln übergeben wurden.
Der Aufsatz wurde mehrfach nachgedruckt und im Sonderprogramm des Bayerischen Rundfunks am 30.8.1961 gesendet. Ein einflussreicher Abgeordneter einer Volkspartei legte gegen die Sendung Beschwerde ein, weil sie seiner Meinung nach religiöse Gefühle verletzte. Dem Leiter des Sonderprogramms, Dr. Gerhard Szczesny, und natürlich Kesten selbst wurde Gotteslästerung vorgeworfen. Der Mitarbeiter des Funks wurde vom Dienst suspendiert, Kesten eröffnete seinen Verteidigungstext mit den Sätzen:

„Ich wählte das Gespräch des Moses auf dem Berge Horeb und das Gespräch Jesu mit Satan. Ich wünschte, jede politische Partei in Deutschland, und insbesondere jene Parteien, die sich christlich heißen, würden mit demselben Respekt, mit derselben wahrhaftigen Frömmigkeit, mit demselben moralischen Feuer, wie ich es in diesem Aufsatz tat, den lieben Gott und Christus und Moses und die moralisch-religiösen Probleme der Menschheit diskutieren. […] Wer nie an Gott gezweifelt hat, der hat nie an Gott geglaubt. […] Die wahren Gotteslästerer sind jene Volksverführer, die durch politische Mittel im Namen Christi oder im Namen des Volkes einen persönlichen Gewinn davontragen wollen, sei es aus materiellen Motiven oder aus irregeleitetem Ehrgeiz, und jene, die jedes religiöse Gefühl, jedes religiöse Leben, jede religiöse Diskussion ersticken wollen durch eine falsche und finstere Orthodoxie, nicht im Interesse Gottes, nicht im Interesse des Volkes, nicht zum Schutze einer Verfassung, sondern in Verfolgung ihrer eigenen politischen Parteiziele.“

Hermann Kesten: Ein Optimist, S. 100