Ich bin ein Spaziergänger.
Ich ging durch hundert Städte
Immer die selbe Straße,
Meine Straße,
Ich gehe, als wüßte ich wohin,
Ungeduldig, obgleich ich ankomme
Wohin ich nicht will.
Ich ging durch Nürnberg und stand in Berlin.
Unversehens ging ich durch Paris und Amsterdam.
Und stand auf Trafalgar Square, auf dem Broadway.
Und gehe durch Rom
Seit zweiundzwanzig Jahren,
Vom Pantheon zum Pincio,
Von der Piazza del Popolo zur Piazza Navona.
In allen Taschen trage ich Jahrtausende,
Gräber der Etrusker, die Niobide im Thermenmuseum,
Des Bernini Kolonnen und seine Teresa
Und den Ölduft Arabiens, aus Millionen Autos,
Samt dem Geruch von gerösteten Kastanien und Kaffee,
Und dem Weihrauch, der seinen Preis hat,
Wie das Öl Arabiens.
Neben mir geht die etruskische Wölfin
Aus dem sechsten Jahrhundert vor Christus.
Kaiserreiche stiegen und stürzten
Unter Augustus lebten zwei Millionen in Rom,
Tausend Jahre später nur dreißigtausend,
Heute schon drei Millionen.
Ich gehe durch die Gärten des Maecen und treffe Horaz.
Er geht neben mir und sieht mich nicht an.
Er spricht. Ich höre ihn nicht.
Auf der Treppe zum Kapitol
Bleibe ich vor Cola di Rienzi stehen,
Dem Tribun von Rom.
Wo ist dein Freistaat
Nach altrömischem Muster geblieben?
Was ward aus deinen Römern, Cola?
Ein Ausländer gehe ich
Durch fremde Straßen und Sprachen
Zwischen Ruinen kaiserlicher Paläste
Auf dem Palatin.
Ich spotte der toten Caesaren. Ich lebe.
Vögel spotten über mich,
Das Gras, der blaue Himmel spotten.
Ich gehe vom Forum Romanum zur Via Condutti
Zwischen Palmen, Pinien, Zypressen und Lorbeer,
Die Brunnen rauschen, Kirchen sehen wie Paläste aus,
Und Kinder mit Händen, die lächeln.
Wurden alle gezeugt in Liebesnächten?
Ich gehe durch die Villa Borghese zur Via Brescia
Neben der Villa Albani, wo Winkelmann wohnte.
Neben mir geht die Wölfin von Rom.
An ihrem Euter säugte sie Remus und Romulus.
Auch ich trank Wolfsmilch.

(Hermann Kesten: Roma aeterna. In: Akzente Heft 5, 1975, S. 394-395)