Sanary-sur-mer in den 30er Jahren – ein verträumter, kleiner Fischerort an der südfranzösischen Küste. Ein provencalisches Nest zwischen Marseille und Toulon mit einem halben Dutzend Hotels, einer Hand voll Cafés, ringsum Weinberge, Ölbaumgärten, Artischockenfelder. Man lebt vom Export von Gemüse und Fisch.
Ab dem Jahr 1933, seit die Nazis Deutschland beherrschen, wird es Zufluchtsort zahlreicher deutscher Literaten. Die Franzosen nennen es jetzt Sanary-les-Allemands. Der Ort wächst zur „heimlichen Hauptstadt der deutschen Literatur“. Viele Autoren siedeln sich in dem Örtchen oder der Umgebung an, weil es sich hier preiswert leben lässt oder weil die Kollegen auch schon da sind. Im Jahr eins des Naziterrors haben über 250 Schriftsteller Deutschland bereits verlassen.
Für Hermann Kesten ist der südfranzösische Ort ein „Paradies“, das er im Herbst 1933 für einige Zeit selbst bezieht. Er beschreibt die besondere, südfranzösische Exilsituation der ersten Monate:
„Im Herbst 1933 traf ich ihn [Ludwig Marcuse, A. d. V. ] in Sanary-sur-mer, einem von Malern entdeckten Fischerdorf in der Provence, wo für einen Herbst und Winter mehr als ein Dutzend deutscher Schriftsteller lebten. Alle weinten um Deutschland, alle schrieben gegen Hitler, alle arbeiteten an Romanen, Dramen, Gedichten, Biographien, von denen das eine oder andere Werk zu den Ruhmeszierden der zeitgenössischen deutschen Literatur zählt. Wie es auch in tumultösen Zeiten selbst so ausgesprochenen Patrioten geschieht, bewunderten sie den Sonnenaufgang und gingen bei Sonnenuntergang am Meer oder unter den Pinien spazieren, sie badeten und verliebten sich zuweilen, sie kamen in den zwei Hafencafés zusammen und diskutierten darüber, wann und wie alle nach Deutschland heimkehren würden, nach dem Sturz der Diktatur versteht sich, und schließlich reiste einer nach dem anderen ab.“
Die „Villa Lazare“ und ein Jahr später die „Villa Valmer“, die Domizile von Lion und Martha Feuchtwanger in Sanary, werden zum Treffpunkt der Exilanten. Man liest sich gegenseitig vor, diskutiert über Deutschland. Brecht gibt freche politische Songs zum Besten, die Malerin und Karikaturistin Eva Herrmann, eine Freundin der Manns, porträtiert die versammelte Autorenprominenz mit unbestechlicher Feder.
Nur wenige der Autoren sind so privilegiert wie Feuchtwanger, viele müssen um jede Veröffentlichung kämpfen. Nicht so Feuchtwanger: Er hat auch im Exil als erfolgreicher Vielschreiber keine finanziellen Probleme und langweilt seine Besucher gern mit seinen Verkaufs- und Auflagenzahlen, mit detaillierten Berichten über seine Arbeitsweise und die Erfolgsstory „Feuchtwanger“ wie Hermann Kesten spöttisch berichtet:
„Wir wurden also zum Tee eingeladen, bekamen von Frau Feuchtwanger die köstlichsten Leckerbissen vorgesetzt, die der arme Feuchtwanger nicht anrühren durfte, wir sahn das Haus, und die Sekretärin und den Garten und die Bücher und Feuchtwangers Auslandsausgaben und schließlich Feuchtwangers Arbeitszimmer, wo er seine kuriose Arbeitstechnik schilderte. Er diktierte grundsätzlich seiner Sekretärin, und zwar stundenlang alles, was ihm durch den Kopf ging, die Pläne zu einem neuen Roman, die verschiedenen Möglichkeiten, Teile eines Kapitels, Bruchstücke, Sätze, Erinnerungen an seine Zeitungslektüre oder an gestrige Gespräche, Klatsch, […] Charakterskizzen der Romanfiguren oder der deutschen Dichter in Sanary, was Feuchtwanger gerne zum Abendessen bekäme und seine Meinung übers Wetter […].
Heinrich Mann hörte mit wachsendem Erstaunen dem singulären Arbeitsbericht zu, der manche Ähnlichkeit mit dem Redestrom samt akustischen Pausen eines psychoanalytischen Patienten auf dem Diwan hatte. […]
Noch auf dem Heimweg sagte Heinrich Mann mehrmals kopfschüttelnd: ‚Ein wirklich kurioser Autor, der Dr. Feuchtwanger, sehr kurios!'“