In dem tragikomischen Roman Die fremden Götter setzt sich Kesten intensiv mit dem Judentum auseinander. Der Roman entstand 1948 in New York und erschien ein Jahr später bei Querido in Amsterdam. Er schildert die Selbstzerstörung einer jüdischen Familie durch religiösen Fanatismus und durch dogmatisches Bekennertum.

Wenn Hermann Kesten gegen die Intoleranz schrieb, dann gab es für ihn keine Tabus. Wer auch immer im Namen einer Ideologie oder einer Religion die Überzeugung, den Glauben und die persönliche Freiheit anderer missachtete, wurde schonungslos vorgeführt. Niemand wurde von seiner beißenden Kritik verschont, nicht einmal Überlebende des Holocaust.

Walter Schrott, ein jüdischer Kaufmann aus Nürnberg, entkommt im Dritten Reich zunächst den Nazis. Er flieht mit der Familie nach Nizza. Doch nach der Okkupation Frankreichs werden er und seine Frau in ein Konzentrationslager deportiert, die Kinder müssen sie zurücklassen. Trotz aller Qualen überleben die Schrotts das Lager. Durch diese wundersame Rettung wird Vater Schrott zum tiefgläubigen Juden.

Nach der Befreiung kehrt das Ehepaar 1946 nach Nizza zurück. Sie finden ihre vermisste, tot geglaubte Tochter Luise wieder. Französische Nachbarn hatten das kleine Mädchen in einem katholischen Kloster in Avignon versteckt. Luise, inzwischen 17 Jahre alt, von Nonnen fromm erzogen, bekennt sich inbrünstig zum katholischen Glauben.

Der orthodoxe Vater versucht, seine Tochter zum jüdischen, zum „ererbten Glauben“ zu bewegen. Luise will nicht konvertieren. Zunächst verbietet er ihr den Kirchgang. Als Luise nicht vom katholischen Glauben ablässt, isoliert er sie, nimmt sie aus der Schule und sperrt Luise schließlich zu Hause ein. Er tut dies alles, einzig um sie vom Christentum zu „befreien“.

Leseprobe

FAMILIENKRIEGE

„Junger Mann! Wollen Sie andeuten, in meiner Familie gehe es schlimmer zu als in Ihrer Familie? Oder in anderen guten Familien? Haben Sie nie Geschichte und Literatur studiert? mehr…

„Junger Mann! Wollen Sie andeuten, in meiner Familie gehe es schlimmer zu als in Ihrer Familie? Oder in anderen guten Familien? Haben Sie nie Geschichte und Literatur studiert?

Nie in der Schule von einer gewissen Iphigenie gehört? Das arme Kind ward zu Aulis vom eigenen Vater aus propagandistischen und religiösen Motiven geopfert. Und kennen Sie ihre Familie? Iphigeniens Urgroßvater Tantalus servierte seinen eigenen Sohn Pelops den Göttern zum Mahle, um sie auf die Probe zu stellen; er büßte es im Tartarus. Der Großvater Atreus, ein König von Mykene, rächte sich an seinem Bruder Thyestes. Indem er dessen Söhne tranchierte und dem Vater zum Mahle servierte; dafür tötete in sein Neffe Aegisthes. Die Mutter Klytämnestra erschlug mit Hilfe ihres Liebhabers Aegisthes ihren Mann Agamemnon im Bad nach dessen glücklicher Heimkehr vom Trojanischen Krieg. Der Onkel Menelaus war ein Hahnrei, der, um seine Hörner zu rächen, den Trojanischen Krieg entflammte. Ihre Tante Helena war die hübscheste Hure der Welt. Ihr Bruder Orestes war ein Muttermörder. Und ihre Schwester Elektra dessen Helfershelferin. Und doch stammte Iphigenia aus bester Familie, von hochbeliebten Atriden. Und lasen Sie nie die Bibel von Loth und seinen Töchtern? Und lasen Sie nicht kürzlich in der Zeitung vom Prozeß Laval, ich meine den Metzger Aristide Laval aus Juan-les-Pins, der seine Töchter jeweils an ihrem siebzehnten Geburtstag geschlachtet, zerlegt, durch seine Wurstmaschine getrieben hat als Charcuteriewaren in seinem Laden verkauft hat, die drei letzten armen Mädchen sogar auf dem schwarzen Markt?
Wer kennt die Menschen und mutet ihnen nicht alles zu, jede selbstlose Tat und jedes Verbrechen? Wenn ein Mensch es nur wagt, intim mit sich selber bekanntzuwerden, muss es ihm vor sich grausen und zugleich mag er sich bewundern. Schreiben Sie mal, ohne zu lügen, einen Tag lang alles auf, was Ihnen durch den Kopf geht, geheime Begierden, Erinnerungen, Vorstellungen und was Sie sagen, denken, tun und hören, Sie könnten ein ganzes Buch damit anfüllen und es wird erbaulich und entsetzlich sein.“

Die fremden Götter, S. 91 f.
Der Plan des Vaters misslingt nicht nur, weil Luise ihrem Christengott kompromisslos treu bleibt. Zwei unberufene Verehrer befreien sie aus ihrem Gefängnis.

Der eine Befreier ist ihr Onkel, der alternde Lebemann und selbstgefällige Buddhist Colombe, der andere ist der Sohn des Oberrabbiners und aufgeklärte Philosophiestudent Thédore. Beiden geht es weniger darum, das Seelenheil der Christin zu retten. Sie wollen die junge attraktive Frau für sich gewinnen und wären dafür sogar bereit, selbst zum Katholizismus überzutreten. Doch die Angebote der Verehrer sind vergeblich. Die fromme Katholikin vergöttert unumstößlich einen Atheisten, den Photografen Henri. Trotz seiner erklärten Gottlosigkeit, schenkt sie ihm ihr Herz.

Der Glaubens- und Generationenkrieg nimmt für den Vater ein tragisches Ende. Der militant-gläubige Schrott resigniert, verfällt der Selbstzerstörung, weil sein Bekehrungsversuch gescheitert ist. Uneinsichtig hat er sich selbst und die Familie ruiniert.